Dem Mittelpunkt der Lebensinteressen kommt für die Beurteilung der Ansässigkeit von natürlichen Personen und folglich für die Bestimmung der unbeschränkten Steuerpflicht in dem einen oder anderen Staat große Bedeutung zu. Gemäß Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) ist der Mittelpunkt der Lebensinteressen in erster Linie entscheidend, wenn die natürliche Person in beiden Staaten über eine ständige Wohnstätte (etwa eine Wohnung) verfügt. Im konkreten Fall hatte sich das BFG (GZ RV/7100987/2017 vom 14.4.2021) mit der Frage auseinanderzusetzen, ob im Rahmen einer temporären Entsendung ins Ausland – bei Beibehaltung eines inländischen Wohnsitzes – der Mittelpunkt der Lebensinteressen in Österreich verbleibt.
Ausgangspunkt war eine für fast 1,5 Jahre befristete Entsendung durch den österreichischen Arbeitgeber nach Kanada. An diese Entsendung knüpfte eine zweijährige Beschäftigung (befristeter lokaler Dienstvertrag) bei der kanadischen Niederlassung des Unternehmens an. Im strittigen Jahr 2012 war der Arbeitnehmer teils im Rahmen der Entsendung und teils im Rahmen des lokalen Dienstvertrags in Kanada tätig, wobei er während dieser Zeit einen Wohnsitz zur Dienstverrichtung in Kanada hatte. Überdies nutzte er seine Eigentumswohnung in Wien während seines Österreichaufenthalts (beruflich und im Urlaub zum Besuch seiner in Österreich lebenden Eltern) von 70 Tagen in diesem Jahr. Das (österreichische) Finanzamt war der Ansicht, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen in dem konkreten Jahr in Österreich gelegen war und daher der Arbeitnehmer mit seinem Welteinkommen in Österreich unbeschränkt steuerpflichtig wurde. Das DBA zwischen Österreich und Kanada sieht dann vor, dass die in Kanada auf die Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit entfallende Steuer auf die österreichische Steuer (unter Berücksichtigung des Anrechnungshöchstbetrags) angerechnet werden muss, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden.
Bei der Bestimmung des Mittelpunkts der Lebensinteressen ist auf das Gesamtbild der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse abzustellen, wobei das Überwiegen der Beziehungen zum einen oder zum anderen Staat ausschlaggebend ist. Typischerweise kommt den wirtschaftlichen Beziehungen geringere Bedeutung zu als den persönlichen Beziehungen. Unter persönliche Beziehungen fallen regelmäßig familiäre Bindungen, Betätigungen gesellschaftlicher, religiöser und kultureller Art, Aktivitäten zur Entfaltung persönlicher Interessen und Neigungen oder auch die Mitgliedschaft in Vereinen sowie andere soziale Engagements. Die wirtschaftlichen Beziehungen basieren hingegen auf örtlich gebundenen Tätigkeiten oder Einnahmequellen in Form von Vermögensgegenständen. Für die Entscheidung, in welchem der beiden Staaten unbeschränkte Steuerpflicht der natürlichen Person vorliegt, ist ein längerer Beobachtungszeitraum (er sollte zwei Jahre übersteigen) heranzuziehen. Bei Entsendungen wird dabei das Beibehalten der Wohnstätte im Entsendestaat oftmals als Indiz gewertet, dass der Mitarbeiter seinen Mittelpunkt der Lebensinteressen nicht in den anderen Staat verlagert hat. Dem VwGH folgend lässt eine zeitlich begrenzte Auslandstätigkeit den Mittelpunkt der Lebensinteressen auch dann im Inland bestehen, wenn die Familie an den Arbeitsort im Ausland mitzieht, die Wohnung im Inland aber beibehalten wird.
Im konkreten Fall sah das BFG – unter Berücksichtigung weiterer Aspekte als das Beibehalten der Wohnung in Österreich – den Mittelpunkt der Lebensinteressen in dem entsprechenden Jahr als in Österreich erfüllt. Bei der Bestimmung der persönlichen Verhältnisse konnten einerseits keine persönlichen Beziehungen zu Kanada festgestellt werden. Andererseits zählt ein regelmäßiger Besuch der Eltern zum Familienleben; mangels sonstiger familiärer Bezugspunkte ist daher der Besuch der Eltern in Österreich während seines Urlaubs für die Beurteilung der persönlichen Beziehungen maßgebend. Bei der Bestimmung der wirtschaftlichen Beziehungen ist zweifelsohne zu berücksichtigen, dass die Einkünfte während der Entsendung in Kanada bezogen wurden. Hingegen sprechen die befristeten Dienstverhältnisse, der Verbleib in der österreichischen Sozialversicherung und auch die insgesamt kurze Aufenthaltsdauer gegen Kanada als Mittelpunkt der Lebensinteressen – es deutet kein Umstand darauf hin, dass der Steuerpflichtige seine wirtschaftliche Zukunft in Kanada gesehen hat. Österreich besteuert daher das Welteinkommen und muss als Ansässigkeitsstaat die kanadische Steuer anrechnen. Überdies können in Österreich die Kosten für die doppelte Haushaltsführung als Werbungskosten steuerlich geltend gemacht werden.
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